Anschauliches Lernen
Mustermannshausen,
die mustergültigste Gemeinde von ganz überall, besticht durch sein ästhetisches
Ortsbild ebenso wie die würde Präsentation der Einwohner. Alles wäre
harmonisch, rund und präsentabel, wenn da nicht überall diese Wahlwerbeplakate
wären. Dr. Helene von Herzfeld, ihres Zeichens führende Kultur- und
Sozialanthropologin, fragt nach.
Frau Doktor Herzfeld durchschritt den Ort erstmals nach
einer mehr oder weniger geglückten Ankunft am Hauptbahnhof und einem äußerst
interessanten Gespräch mit dem ersten Ureinwohner, der ihr über den Weg lief,
und der – zu ihrer nicht geringen Freude – ein Exemplar der weitverbreiteten
Spezies „Beamte“ darstellte. Der Ort war zu diesem Zeitpunkt geradezu übersät
mit großflächigen Plakaten von sämtlichen kandidierenden Parteien, wobei die
Plakate ganz offensichtlich nicht nach Stimmenstärke verteilt worden waren,
sondern zu gleichen Teilen, so dass sich die verschiedensten Couleurs munter
abwechselten, was ein durchaus farbenfrohes Bild ergab, wobei auch hier darauf
geachtet wurde, dass die Farben aufeinander abgestimmt waren. So war z.B.
offenbar Wert darauf gelegt worden, dass nicht Rot neben Pink erschien, aber
auch nicht Blau neben Schwarz, sondern immer Rot – Schwarz – Pink – Blau – Gelb
– Grün. Gemeinsam hatten all diese Plakate, dass das Konterfei des
Spitzenkandidaten darauf zu sehen war und ein vollmundiger Slogan zu brisanten
Themen.
So war dem Plakat der sozialistischen Partei zu entnehmen:
„Stärkung des Arbeitnehmerstandes sichert Arbeitsplätze.“
Einige Schritte weiter war vom Plakat der Bürgerlichen zu
erfahren:
„Stärkung des Unternehmerstandes sichert Wohlstand.“
Anschließend las man am Plakat der Pinken:
„Freies Unternehmertum und selbstverantwortliche
Arbeitnehmer sichern den Wettbewerb.“
Noch einmal weitergegangen, verkündete das Plakat der
Freiheitlichen:
„Einheimische Arbeitskräfte sichern einheimischen Konsum.“
Um gleich darauf zu einer gelben Parole überzuwechseln:
„Freies Unternehmertum für jeden.“
Den Abschluss bildete der grüne Standpunkt:
„Eine gesunde Umwelt sichert den wohlbewachten Markt.“
Ebenso aussagekräftige Sätze fanden sich zum Thema Bildung,
Sicherheit u.v.m. Offenbar befand sich der Ort gerade in der heißen Phase einer
Wahl. So lautete zumindest die Arbeitshypothese von Frau Dr. von Herzfeld, die
sich eigentlich nie irrte, und selbst wenn es so aussah, lag der Irrtum stets
bei ihrem Gegenüber. Dennoch handelte es sich nicht um einen direkten
Wahlkampf, wie ihr versichert wurde, obwohl wir uns ja eigentlich immer im
Wahlkampf befänden, so die einhellige Meinung der im „Wilden Ochsen“ vollzählig
anwesenden Spitzenkandidaten, denn nach der Wahl sei schließlich wieder vor
einer Wahl. Aber die Plakate dienten der Bildung.
„Wie sonst wüssten die Parteimitglieder welche Meinung sie
zu vertreten hätten, auf der einen Seite, und auf der anderen Seite die Wähler,
was die Parteien verträten“, fasste der Herr Bürgermeister, Max Mustermann, die
Intention hinter den Plakaten zusammen.
„Aber ich dachte immer, dafür gäbe es Parteiprogramme?“,
fragte nun Frau Dr. von Herzfeld nach.
„Natürlich gibt es die“, mischte sich an dieser Stelle Siggi
Schablone, Oppositionsführer, ins Gespräch, während der Herr Bürgermeister sich
nicht ganz klar darüber zu sein schien was damit eigentlich gemeint war, „Aber
es kann ja niemandem zugemutet werden, dass er die liest. Für die eine
ausreichend politische Bildung des einfachen Bürgers genügen die Plakate. Damit
ist alles Wesentliche gesagt. Kurz, prägnant und immer mit hübschen Bildern
garniert.“
Eine wahrhaft epochemachende Errungenschaft auf dem Weg zu
einer allumfassenden Demokratie.
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