Anstand und Würde erfordern
Wir leben in einer freien, demokratischen, mittelständisch
orientierten und dem Konsum verpflichteten Gesellschaft. Darauf ist alles
aufgebaut. Daraufhin ist alles ausgerichtet. Aber trotz aller Freiheit, allem
Demokratiebewusstsein und aller Mittelmäßigkeit, Verzeihung, ich meinte
natürlich, Mittelständigkeit, gibt es ungeschriebene Gesetze. Jene werden im
Allgemeinen unter dem Titel Moral und Ethik zusammengefasst. Bis vor wenigen
Jahren war es nicht notwendig an diese überhaupt zu rühren. Jeder kannte sie.
Jeder befolgte sie. Natürlich, zu jeder Zeit und an jedem Ort gab es Abweichler,
Aufwiegler, doch ihre Zahl war überschaubar und der tragische Verlauf ihres
Lebens, der eben auf die Respektlosigkeit dem ungesatzten Recht gegenüber
zurückzuführen ist, konnte den in das System hineinwachsenden Menschen als
abschreckendes Beispiel vor Augen geführt werden. Die Eltern geben diese Regeln
an ihre Kinder weiter, die sie getreulich befolgen und fraglos übernehmen.
Jedoch mit einem gewissen Alter, einer Zeitspanne im Leben, die man gemeinhin
als Adoleszenz bzw. Pubertät bezeichnet, also jene, innerhalb derer der
unfertige Mensch zum fertigen, gehorsamsverpflichteten, stimmberechtigten und
arbeitswilligen, zusammengefasst, zu einem vollwertigen Erwachsenen heranreift,
ist es mittlerweile legitim diese Regeln auszutesten, indem sie überschritten werden.
Da werden obskure Haartrachten und absurde Kleidung getragen, diverse
Körperteile durchstochen oder auf andere Weise malträtiert, derbe, ordinäre
Klänge hörbar. Diese Zeit war noch vor ein paar Jahrzehnten auf höchstens 19.
Jahre beschränkt. Mittlerweile haben die diversen Wissenschaftler
herausgefunden, dass es eine sog. Kulturpubertät gibt, die besonders jene
Mitglieder der menschlichen Spezies trifft, die dem Studium frönen. Ihnen wird
eine Verlängerung bis zum 25. Lebensjahr zugestanden. Aber dann ist endgültig
Schluss mit lustig. Spätestens dann, wenn einen Lebensrealitäten mit voller
Wucht treffen. Einstiegsszenarien sind Auszug aus dem Hotel Mama, Annahme eines
ernsthaft verfolgten Berufes und Gründung einer eigenen Familie. Von da an kann
über mangelndes Benehmen nicht mehr hinweggesehen werden. Von da an treffen
einen zu Recht der volle Umfang der Sanktionsmöglichkeiten der Gesellschaft,
denn schließlich ist man von da an Vorbild für nachfolgende Generationen. Dies
gilt umso mehr, desto älter ein Mensch wird, und ab der Pensionierung, also der
Niederlegung des aktiven Lebens, hat er sich nun vollends der Aufgabe
hinzugeben Anstand und Würde zu verkörpern, so sehr, dass er es aus jeder Pore
zu atmen scheint. Hier beginnt alles mit der angemessenen Bekleidung. Für die
Herren empfiehlt sich zum Ausgehen ein leichter, dreiteiliger Anzug, mit dazu
abgestimmten Hut und Schuhen. Geeignet scheint auch ein Spazierstock. Derart
gekleidet flaniert er ein wenig durch die Straßen oder durch den nahegelegenen
Park, lässt sich vielleicht auf einer Parkbank nieder oder auf einen Kaffee in
dem entsprechenden Etablissement, zum Gedankenaustausch mit Gleichalterigen
oder Ähnlichem, was allerdings angemessen sein muss. Verpönt sind schnelle
Bewegungen und zu viel Körperbetontheit. Für die Damen gilt für die Bekleidung
außer Haus, ein entsprechendes Kleid, das sowohl die Arme als auch das
Dekolleté sowie zumindest die Knie bedeckt hält. Empfohlen wird ebenfalls eine
kleidsame, dezente Kopfbedeckung und diese stimmig zu Handschuhen, Tasche und
Schuhwerk. Nun sieht man trotz allem immer wieder ältere Herrschaften, die ihre
altersschlafe Haut den Blicken der anderen aussetzen oder sich bei sportlichen
Betätigungen in der Öffentlichkeit abstrampeln. Das widerspricht im gröbsten
Maße der Würde und dem Anstand und kann auf gar keinen Fall gebilligt werden.
Peinlich bis grotesk sind diese Anblicke und dürfen nicht geduldet werden.
Deshalb ist es höchst an der Zeit diese mit gesellschaftlichen Sanktionen
einzudecken. Denn wenn man hier nicht den Anfängen wehrt, dann bedeutet das
über kurz oder lang den Untergang unserer Gesellschaft, und das können wir auf
keinen Fall wollen, den völligen Untergang des Abendlandes.
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