Alles sehr betrüblich
"Betrüblich ist es allemal", gab Pfarrer Gotthold
Seelenvoll unumwunden zu, nachdem er sich, gemischt unter seine Schäfchen im Wirtshaus, auf den einen oder anderen, und dann
nochmals auf den anderen oder einen - man darf ja niemanden vor den Kopf stoßen in seiner verantwortungsvollen Position - Spritzer
einladen hatte lassen, "Sehr betrüblich sogar." "Was ist sehr betrüblich?", fragte unser über alles geschätzter Herr Bürgermeister mitfühlend nach. Diese Allerheiligenfeiertage mit all dem Friedhofsgetue und dem
ständigen Gerede über die Verstorbenen, das kann sogar einen Mann wie
unseren Herrn Bürgermeister zum Grübeln bringen, so dass er sein Mitgefühl leicht aufzubringen vermochte. Schließlich wird erst im Miteinander ein Gefühl zu einem Mitgefühl. "Wissen Sie, unsere Altvorderen, die haben
sich schon was dabei gedacht, als sie den Allerseelentag einführten", erklärte der Pfarrer. "Nun, vielleicht können Sie uns das erzählen", sagte der Herr Bürgermeister vorsichtig, "Ich meine, ich weiß natürlich Bescheid,
aber ich glaube, dass es nicht alle so genau wissen, und Sie haben schließlich - wie sagt man - ach ja, quasi, sozusagen,
ihre Pfründe auf diesem Gebiet." Da hatte
er sich wirklich elegant aus der Affäre gezogen,
dachte der Herr Bürgermeister für sich, während er sich gedanklich auf die Schulter schlug. "Vielen Dank, Herr
Bürgermeister", quittierte der Pfarrer
dieses Privileg freudestrahlend, um dann, nun an alle gewandt, fortzusetzen, "Wie
wir alle wissen, gedenken wir an Allerheiligen - es bringt ja auch der Name zum
Ausdruck, und nebenbei habe ich gestern in meiner Predigt davon gesprochen, aber
da waren nicht alle anwesend - aller Heiligen und bitten um ihren Beistand. Am Allerseelentag
jedoch sollen unsere Gedanken und vor allem unsere Gebete ganz auf die gerichtet
sein, die schon gestorben sind, aber deren Seelen den Sprung in den Himmel noch
nicht geschafft haben. Um nun diesen Vorgang zu beschleunigen, konnte man den Pfarrer
dazu bringen für den einen oder anderen Verstorbenen
ein gutes Wort einzulegen, denn schließlich hat
das Wort eines Pfarrers bei Gott mehr Gewicht als das eines normalen Christen. Und
zum Zeichen des aufrichtigen Wunsches, dass eben jene Seele in die ewige Glückseligkeit einginge, ließ man dem Pfarrer eine - sagen wir mal - finanzielle Unterstützung zukommen, damals Ablass genannt, und das, ja das, ist alles in Vergessenheit
geraten. Niemand hat mehr Interesse daran seine armen Anverwandten aus den Grauen
der Qualen des Fegefeuers zu erretten, obwohl es doch so einfach sein könnte." Damit schloss der Pfarrer seinen Bericht.
"Es ist ja so betrüblich", entfuhr
es dem Herrn Bürgermeister unwillkürlich, um dann nur desto resoluter hinzuzufügen, "Das kann nicht so sein, dass der Bürger, der gute Christ, nichts mehr hergibt für das Seelenheil der von ihm geliebten Menschen,
dass er alles für sich behält. Das mit dem Ablass, dass sollten wir schleunigst wieder beleben, für die armen Seelen und die armen, geknechteten Volksvertreter,
die weder Mühen noch Plagen scheuen um sich für die Bürger stark zu machen, die ihr Leben und manchmal auch ihre Gesundheit dahingeben,
nur um dem Volk zu dienen. Gleicher unter Gleichen, nein ein Knecht des Volkssouveräns, und dann genügt oft ein kleiner Schweißtropfen zu viel und schon redet niemand mehr über die großartige Arbeit,
die man leistet, sondern nur mehr davon, und man wird einfach so abserviert, und
dann war alles umsonst. So wäre es höchste Zeit, für jeden aufrechten
Bürger, für jeden aufrechten Demokraten und für jeden, der unsere nationalen Grundlagen in Form
des Christentums achtet, einen Ablass zu zahlen,
frohen Herzens, weil man weiß, dass es
recht angelegt ist für die armen
Seelen im Fegefeuer und die in den Amtsstuben und Parlamenten, dass endlich wieder Gleichgewicht herrscht und der Dienst
am Menschen eine entsprechende Würdigung erfährt. Prost!" Erschöpft von solch einer emotional aufwühlenden Rede, lässt sich der Herr Bürgermeister in seinen
Platz sinken, während er sehr
wohl wahrnimmt wie sehr er die Menschen mitzureißen vermochte. Der eine oder andere drückte sich wohl verstohlen eine Träne weg. Ja, er hatte sie erreicht, in ihrem tiefsten
Inneren, war er überzeugt, als der
reichste Bauer im Ort sich erhob und sagte, "Wirklich schön hast des gsagt, Bürgermeister, das macht Dir niemand so schnell nach, wie Du
das sagst, das Prost." Verdattert sah der Bürgermeister seinem Gegenüber in die Augen, mit offenem Mund und ohne recht zu glauben, was er da
hören musste. Leise und verstohlen
verlies er die illustre Runde und schlüpfte, den Hut tief ins Gesicht gezogen, in die wartende
Limousine, während der Chauffeur pflichtbewusst
die Türe hinter ihm schloss.