Schlaf, Kindlein, schlaf!
Liebe Kinder!
Wie ich hörte habt ihr heute Eurer Lehrerin
widersprochen. Das sind ganz schlechte Vorzeichen. Nicht, dass ich
grundsätzlich behaupten würde, dass Lehrer und etwaige andere quasi Autoritäten
immer recht hätten, aber es zeigt mir etwas anderes Verhängnisvolles: Ihr müsst
zugehört haben. Das ist gar nicht gut. Wie oft habe ich euch schon gesagt, die
Vormittage, die ihr in der Schule verbringt, und abzüglich aller Ferien,
Feiertage, schulautonomen Tage, ausgefallen Stunden wegen Sitzungen,
Konferenzen, Nach- oder Vorferienausruhtagen, sind das sowieso nicht allzu
viele, solltet ihr euch ausruhen und relaxen. Natürlich könnt ihr die Zeit auch
nutzen um was zu lernen, aber das klappt nicht, wenn ihr euch davon ablenken
lasst, dass ihr dem Lehrer zuhört. Natürlich kann das auch passieren, aber auf
solche Zufälle würde ich mich nicht verlassen. Deshalb setzen wir auf
Selbsthilfe und sehen, dass wir am Nachmittag die Bildung erwerben, die euch
das System verwehrt. Denn wenn ihr nicht auf mich hört, so werdet ihr dort
landen, wo die ehemaligen SS-Offiziere und deren würdige Nachfolger,
KZ-Aufsichtspersonal und ähnlich denkende Menschen nun das Sagen haben, am
Arbeitsamt, oder wie es heute heißt, Arbeitsmarktservice. Ich will euch keine
Angst machen, nur die Realität vor Augen führen, denn wenn ihr einmal
arbeitslos seid und euch um Unterstützung umseht, so solltet ihr erst alle
persönlichen Möglichkeiten ausschöpfen, bevor ihr euch auf das Amt begebt. Denn
dort läuft es folgendermaßen ab: Ihr geht hinein und bekommt den ersten Stempel
auf die Stirn gepresst: unfähig. Der ist übrigens so konzipiert, dass er sich
einbrennt und für den Rest eures Lebens nicht mehr abgeht. Seid ihr noch jung,
nun dann könnt ihr es vielleicht noch schaffen halbwegs unbeschadet daraus
hervorzugehen. Nach dem Stempel beim Eintritt werdet ihr einem Betreuer
zugewiesen, der euch den zweiten Stempel verpasst, der das persönliche Zeichen
des Betreuers darstellt und damit eure ewige Knechtschaft besiegelt. Ihr
erzählt ihm vielleicht von dem was ihr schon gelernt habt, wo eure Stärken
liegen und was ihr für Interessen habt.
„So, so, Sie interessieren sich also für
ein Handwerk“, sagt der Betreuer und lehnt sich gemächlich in seinem Stuhl
zurück, „Na, dann ist es doch das Beste, Sie gehen in einen Kurs für
Handarbeit. Da ist doch gerade ein Platz frei. Hier ist der Schein. Am Montag geht’s
los.“
„Aber ich meinte eher etwas in Richtung
Tischler oder so“, versuchst Du schüchtern einzuwerfen.
„Ich weiß genau was für Sie gut ist. Oder
zweifeln Sie meine Kompetenz an?“, und Du bekommst einen scharfen Blick neben
dem scharfen Ausdruck, und wehe Du gehst nicht hin, in den Handarbeitskurs, und
wehe Du erdreistest Dich während der Laufzeit des Kurses einen Arbeitsplatz zu
finden, denn Du musst zuerst den Kurs, der für Dich gut ist, absolvieren, damit
Du dann einen Arbeitsplatz findest. Und so wird es weitergehen bis ihr zuletzt
kurz vor der Pensionierung steht. Da lernt ihr dann nochmals schnell
Bewerbungen zu schreiben oder macht noch mal einen Excel-Kurs, den 23 in eurem
Leben, denn schließlich hat sich doch so viel weiterentwickelt. Wollt ihr das?
Wollt ihr das wirklich erleben? Nein, dann rate ich euch dringend, widersprecht
eurer Lehrerin nicht, und jetzt schlaft endlich.
Dieses Gespräch zwischen einem Vater und
seinen Kindern wurde heimlich aufgenommen und zeigt was doch für schreckliche
Gerüchte über unsere Ämter in der Bevölkerung kursieren. Die Redaktion
distanziert sich vehement davon, in Trauer und Demut.
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