Interessensabwägung
„Wenn ich Sie also recht verstehe, Frau Professor“,
versuchte Maria Marana, Reporterin beim feministischen Untergrundblatt Mustermannshausen
„Femme“, das Unerhörte der Aussage zusammenzufassen, „dann gibt es selbst in
unserem Rechtsstaat Dinge und Einrichtungen, die von Rechts wegen erlaubt sind,
auch wenn die Gefahr für Leib und Leben, für psychische und physische
Gesundheit mancher Menschen dadurch massivst bedroht sind?“ „Genau so ist es“,
bestätigte Frau Professor Sophia Lang rundweg, „Allerdings geht es hier um eine
Interessensabwägung. Wird mehr Schaden angerichtet indem man die Dinge bzw.
Einrichtungen erlaubt oder dadurch, dass man sie untersagt. Es gibt nicht auf
der Welt, das nur gut und nichts was nur schlecht ist, so dass man entscheiden
muss respektive der Gesetzgeber, ob das Gute oder das Schlechte überwiegt.
Sobald das Gute überwiegt, also die Mehrheit der Menschen einen positiven
Nutzen daraus zieht, ist der Gesetzgeber gehalten dies beizubehalten. Die
wenigen, die Schaden nehmen, nun, die muss man eben im Sinne der Allgemeinheit
in Kauf nehmen. Das ist nun mal das Grundübel des demokratischen
Rechtsstaates.“ „Das klingt recht überzeugend, auch wenn ich mir darunter nun
nichts Rechtes vorstellen kann“, entgegnete Maria Marana, „Aber vielleicht
hätten sie die Güte und geben uns ein Beispiel, damit unsere Leserinnen sich
besser zurecht finden.“ „Mit dem größten Vergnügen“, erklärte sich Frau
Professor Lang sofort bereit der Bitte der Reporterin zu entsprechen, „Es ist
eine Institution, die uns allen vertraut ist, ja nicht nur vertraut, alle von
uns sind in irgendeiner Weise damit verbunden und darin verhaftet, und zwar ein
Leben lang. Ich will nicht von 100% sprechen, doch die, die es schaffen sich
von ihr abzuwenden, vermögen sie doch nie ganz aus ihren Gedanken zu verbannen.
Sie kann Heimstatt und Zufluchtsort und Geborgenheit bedeuten.“ „Also
grundsätzlich eine gute Einrichtung?“, unterbrach Maria Marana ungestüm.
„Grundsätzlich, aber es ist auch die Institution, in der am meisten Gewalt
ausgeübt wird. Machtmissbrauch und Unterdrückung finden darin ungestraft, da
fast immer ungesehen, statt. Sie ist die Zuchtstätte von Psychosen und
Neurosen. In ihr werden Schizophrenie und Depressionen nach geradezu vererbt.“
„Das klingt ja schrecklich!“, entsetzte sich Maria Marana glaubwürdig, „Und
dennoch bleibt sie so wie sie ist? Ich meine, wenn sie schon gute Seiten hat,
die dazu berechtigen sie aufrecht zu erhalten, so wäre es doch vielleicht
möglich sie zu reformieren, um die negative Seite abzufedern?“ „Nun, der
Gedanke wurde schon geäußert und er klingt auch durchaus plausibel, doch diese
Institution ist so alt und etabliert, dass sie sich offenbar allein daraus
schon das Recht herauszunehmen scheint sich nicht verändern zu müssen“, meinte
Frau Professor Lang, „Ihre Befürworter berufen sich quasi auf das Recht der
Historie, was nicht unbedingt sehr plausibel ist, weil sich sonst nie etwas
ändern dürfte, aber es funktioniert nach wie vor.“ „Dann weiß ich wovon Sie
sprechen!“, warf Maria Marana freudestrahlend ein. „Na dann sagen Sie mal ob
Sie es erkannt haben“, zeigte sich Frau Professor Lang gequält interessiert. „Sie
sprechen von der katholischen Kirche“, antwortete Maria Marana, und ein breites
Lächeln überzog ihr Gesicht, wie bei einem Kind, das nach langem Suchen ein
Spielzeug wiedergefunden hatte. „Nun, wenn ich es recht bedenke, so ist ihr
Gedankengang gar nicht so falsch. Viele der vorgebrachten Kritikpunkte sind
diesen Institutionen gemein. Gut überlegt“, entgegnete Frau Professor Lang, „Aber
in dem Fall meine ich eine Institution, die an sich kleiner ist, aber doch
überall vertreten. Ich spreche von dem, was manche Menschen als die Keimzelle
unserer Gesellschaft bezeichnen. So gesehen würden sie damit nur bestätigen,
wie krank unsere Gesellschaft selbst ist, ich spreche von der Familie.“
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