Wenn alles den Bach runtergeht
Wieder einmal macht sich der
Unmut breit. Ein wenig Nörgelei, das sind wir ja alle gewohnt, aber nun wird es
bereits überbordend, so sehr, dass sich unser sehr geehrter Herr Bürgermeister
bemüßigt, wenn nicht gar genötigt fühlte das Wort an uns zu richten, auf dass
wieder Ruhe und Eintracht herrsche. Wir erlauben uns diese Worte im Wortlaut
wiederzugeben:
Liebe Bürgerinnen und Bürger!
Mit großer Sorge musste ich
feststellen, dass sich der Unmut unter den Bürgerinnen und Bürgern unseres
schönen, um nicht zu sagen, mustergültigen Ortes breitmacht und die Menschen
gegeneinander aufbringt. Die, die Arbeit haben stellen sich gegen die, die
keine haben. Die, die Kinder haben stellen sich gegen die, die keine haben.
Die, die reich, vermögend oder erbend sind stellen sich gegen die, die arm,
unvermögend und ohne Erbe sind. Die, die hier geboren wurden stellen sich gegen
die, die hier erst eine neue Heimat fanden. Wahrhaft biblische Zustände
herrschen hier, aber keine paradiesischen, sondern wie jene beim Turmbau zu
Babel, keiner versteht sich mit keinem mehr. Dabei wäre es doch so einfach,
diese Vision zu verwirklichen, wo der Arbeitslose friedlich neben dem
Arbeitshaber auf der Parkbank sitzt, soweit zweiterer Zeit dafür hat, der
Kinderlose setzt sich neben die Kinderreiche beim Spielplatz, so weit er den
überhaupt findet, und der Reiche reicht seine Hand dem Armen, und versteckt
vorher sicherheitshalber seine Rolex. Es muss wieder Friede und Einklang
herrschen, denn nur so können wir ein funktionierendes Gemeindewesen aufrecht
erhalten, dass darin kumuliert, dass wir alle miteinander ab und zu ein Glas
Bier trinken können oder Chardonnay, je nach Gusto und Gepflogenheit. Die
Gräben müssen geschlossen werden, denn bedenket, die staatlichen Meriten, die
der Papa Staat, unser aller Papa so großzügig über uns ausschüttet, nicht
einfach nur mit der Gießkanne, nein, er lässt sie regnen. Kein Mensch weiß
woher, aber nur Schulter an Schulter können wir sie auffangen, wobei auch hier
Unkenrufe laut werden, dass unser Papa kein Geld mehr hat, dass die
Wirtschaftsleistung nachlässt und überhaupt angeblich alles den Bach runter
geht, auch, weil zu viel in die Verwaltung investiert wird. Mitnichten, sage
ich da nur, denn wie bitte soll denn die Wirtschaftsleistung nachlassen, wenn
wir doch alle brav Schlange stehen die sozialen Wohltätigkeiten in Empfang zu
nehmen und sie schnurstracks in Konsum investieren. Wie könnte denn der
Verwaltung zu viel sein, wenn doch jemand da sein muss, der die großen,
köstlichen Gaben verwaltet, und vor allem gilt es immer darauf zu schauen,
niemanden vor den Kopf zu stoßen, denn wir haben uns alle lieb, ob schwarz ob
rot ob blau ob braun – nein, die nicht mehr, aber dafür alle anderen, auch
pink, und so muss für alle ein Plätzchen vorgegeben sein. Böse Zungen nennen
das Proporz. Ich nenne es Annäherung an paradiesische Zustände, die uns allen
Wohlstand und großes Glück bescheren, wenn nicht jetzt, dann später, oder gar
im nächsten Leben, aber auf jeden Fall ganz bestimmt, und dann noch eines, was
die Nörgler und Schwarzseher und Schlechtredner sehr gerne übersehen: Wenn
alles den Bach hinunter geht dann fließt es in den Fluss und der Fluss fließt
ins Meer und wenn das Meer so vor sich hin geht, immer in Wellen oder ruhig, je
nach Wind und Wetter, dann verdunstet das Meer, was auch nichts anderes als der
Bach ist, und das wird zu Wolken und die Wolken ziehen weiter, auch bis sie
wieder zu uns kommen und dann regnet es und alles fällt wieder auf uns herab,
so dass nichts verloren ist, sondern auf einfachste Weise zurückkommt. Aber das
sollte doch eigentlich schon jedes Kind wissen, dass dem so ist.
Und wer es noch immer nicht
verstanden hat, der soll in sich gehen und auch wieder aus sich, aber nicht
fahren, nur gehen.
Und dann wird sich wieder die
große Friedfertigkeit über unseren mustergültigen Ort breiten, wie der Teppich
unter den wir alles kehren, und ich kann mich wieder der Beschaulichkeit
widmen,
Euer über alles geliebter
Bürgermeister,
Max Mustermann
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